Der Rettungsdienst in Deutschland muss grundlegend reformiert werden. Das ist das Ergebnis des zweitägigen Fachkongresses „Wege zum Rettungsdienst der Zukunft“, den die Björn Steiger Stiftung in Berlin veranstaltete. Mehr als 200 Expertinnen und Experten diskutierten am 24. und 25. Juni in Berlin über die notwendigen strukturellen, politischen und praktischen Veränderungen, um den Rettungsdienst zukunftsfähig zu machen. Weitere Gäste waren online zugeschaltet.
Eine der wesentlichen auf dem Fachkongress erhobenen Forderungen war die nach einer grundlegenden Erneuerung des Leitstellensystems in Deutschland. „Unsere Rettungskräfte sind hervorragend ausgebildet. Die Strukturen, in denen sie arbeiten müssen, sind jedoch hoffnungslos veraltet.“, sagte Pierre-Enric Steiger, Präsident der Björn Steiger Stiftung. „Zudem beeinträchtigen gesetzliche Rahmenbedingungen die Rettungseffizienz. Deshalb sterben täglich Menschen, die wir hätten retten können“, konstatierte Stiftungs-Präsident Steiger.
„Der Rettungsdienst ist überlastet mit Fahrten, die keine Notfälle sind“, kritisiert Christof Constantin Chwojka, Geschäftsführer der Björn Steiger Stiftung. "Wir brauchen eine Gesundheitsleitstelle, die digital vernetzt ist und Spezialisten hat, die standardisiert abfragen, um dem Patienten jene Hilfe zukommen zu lassen, die er aktuell benötigt. Und das ist eben nicht immer der Rettungswagen“, so Chwojka weiter.
Im Gegensatz zum Reformstau im deutschen Rettungswesen haben zahlreiche europäische Länder ihre Rettungsdienste modernisiert und mit weiteren Akteuren des Gesundheitswesens vernetzt, darunter mit Apotheken, Bereitschaftsärzten, Pflegediensten oder Therapeuten. So profitieren sie von einer, den Rettungsdienst weitreichend entlastenden Diversifizierung der Aufgaben.
Lernen vom Amoklauf in Graz
Ein Beispiel für moderne Leitstellenarbeit präsentierte Thomas Gangl, stellvertretender Leiter der Landesleitstelle Steiermark. Am Beispiel der Rettungsmaßnahmen nach dem tragischen, in seinem Bezirk am 10. Juni erfolgten Amoklauf an einer Grazer Schule schilderte er, wie durch standardisierte Notrufabfragen und digitale Ressourcenvernetzung eine schnelle und koordinierte Einsatzreaktion möglich war. „In diesem Extremfall konnten wir schnell und koordiniert reagieren, weil wir in der Leitstelle technisch gut aufgestellt sind. Wir arbeiten mit einem Crew Resource Management und können alle Rettungswagen im Bundesland disponieren. Auch unser Team am Einsatzort ist digital vernetzt und in der Lage, die Kapazitäten der Krankenhäuser einzusehen“, erklärte Gangl.
So bearbeitet seine Leitstelle alle Notrufe für die gesamte Steiermark mit rund 1,3 Millionen Einwohnern. Dabei setzt sie selbstverständlich auf eine standardisierte Abfrage. Auf diese Weise konnte auch beim Amoklauf in Graz schnell ein Überblick über die Lage in der Schule gewonnen werden. Eindrucksvoll schilderte Gangl den Eingang des ersten Anrufs während der Horror-Tat: Dieser kam von einer Schülerin, die sich noch in der Schule befand und von der Leitstelle Anweisungen zu Rettungsmaßnahmen erhielt. Dieses 15-minütige Gespräch war nur möglich, weil über die Zentrale ausreichend Personal für andere Anrufe verfügbar und zuschaltbar waren. Parallel konnten Dispatcher auch Rettungswagen und weitere Einsatzorganisationen alarmieren.
In Österreich fährt die Polizei zur Reanimation
In allen Regionen Österreichs sind vernetzte Gesundheitsleitstellen bereits Standard. Auch das wurde im Rahmen des Kongresses deutlich. In Wien etwa werden Polizei und Feuerwehr als First Responder, also als Ersthelfer, eingesetzt, um bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand und anderen Notfällen sofort Hilfe leisten zu können. „In Wien braucht der Rettungsdienst im Schnitt acht Minuten, um am Ort des Geschehens zu sein, die Polizei hingegen nur zwei bis drei Minuten, weil sie in der Stadt unterwegs ist und Streife fährt“, sagte Mario Krammel, ÖNK-Präsident und Chefarzt der Berufsrettung Wien. „Deshalb nutzen wir diese Ressource.” Der Einsatz der Polizei als Ersthelfer hat nachweisbar durch die aktuelle Krankenhausstatistik die Überlebenschancen von Patientinnen und Patienten sichtbar verbessert.
Medizinische Evidenz als Planungsgrundlage
Wie wichtig im Notfall eine schnelle Aktivierung von Helferinnen und Helfern ist, erläuterte Professor Clemens Kill, Direktor Notfallmedizin der Universitätsmedizin Essen: „Bei einem Kreislaufstillstand muss nach maximal fünf Minuten die Reanimation anlaufen, nach höchstens zehn Minuten muss auch ein Rettungswagen vor Ort sein.“ Damit richtete Professor Kill auch eine nachdrückliche Forderung an die politischen Verantwortlichen.
Denn in den Rettungsdienstgesetzen der Bundesländer hat die medizinische Evidenz bei der Berechnung von Hilfsfristen noch immer eine untergeordnete Rolle: Je nach Bundesland und der Klassifizierung als ländliche oder städtische Region werden unterschiedliche Hilfsfristen angesetzt.
Wie stark dies den Grundsatz der Gleichbehandlung verletzt und warum diese Praxis verfassungswidrig ist, legte Andreas Pitz, Direktor des Instituts für Gesundheits- und Life Science Recht der Technischen Hochschule Mannheim, offen. Pütz wörtlich: „Das deutsche Rettungsdienst-System wird seinem Auftrag nicht gerecht, weil der Bund seiner grundrechtlichen Schutzpflicht und Garantenstellung nicht nachkommt, einheitliche Regeln für die Versorgung in der Notfallrettung festzulegen.“ Aus diesem Grund und um die lebenswichtigen Grundsätze der Gleichbehandlung bundesweit wirksam werden zu lassen hat die Björn Steiger Stiftung im März 2025 Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und – stellvertretend für alle Bundesländer – ebenso gegen das Land Baden-Württemberg eingereicht.
MIC – Pionier in der präklinischen Versorgung
Ein weiterer Schwerpunkt des Kongresses war die Vorstellung neuer Pilotprojekte: Joachim von Beesten und Christoph Wihler präsentierten in Berlin das von der Björn Steiger Stiftung am Klinikum Stuttgart initiierte Pilotprojekt „Medical Intervention Car (MIC)”. Das MIC-Rettungsfahrzeug ist unter anderem mit einer Herz-Lungen-Maschine sowie der Möglichkeit zur Bluttransfusion nach schweren Unfällen und zur präklinischen Versorgung schwerstkranker Kinder und Neugeborener ausgestattet. „Das MIC in Stuttgart läuft im 24/7-Betrieb, 365 Tage im Jahr, und war seit seiner Einführung über 260 Mal im Einsatz. Damit setzen wir ein Zeichen für die präklinische Notfallversorgung in Deutschland“, sagte Joachim von Beesten, Geschäftsführer der Björn Steiger Stiftung.
Kongress auch im Jahr 2027
„Der Fachkongress ist eine wichtige Plattform für den Austausch der beteiligten Akteure im Rettungsdienst. Er trägt überdies dazu bei, die Diskussionen im Bundestag, im Gesundheitsausschuss und in den Fachgremien zu bereichern", betonte Klaus Dieter Scheuerle, Vorsitzender des Präsidialrats der Björn Steiger Stiftung. Der Kongress soll im etablierten zwei-Jahres-Rhythmus auch im Jahr 2027 wieder stattfinden.
Der diesjährige Fachkongress „Wege zum Rettungsdienst der Zukunft“ ist online abrufbar: https://rettungslandschaft.steiger-stiftung.de/kongress2025/
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Instagram. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenSie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Facebook. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr Informationen