
Wenn jemand den Notruf 112 wählt, wird in der Regel eine Rettungskette in Gang gesetzt, bei der jede Minute zählt. Doch wer bestimmt eigentlich, was ein echter Notfall ist? Und wie schnell muss Hilfe wirklich vor Ort sein, um Leben zu retten? Fragen wie diese stehen im Zentrum der Debatte um die sogenannte Hilfsfrist im Rettungswesen – also der Zeitspanne vom Notruf bis zum Eintreffen der ersten qualifizierten Hilfe am Einsatzort.
Die Problematik beginnt bereits bei der veralteten Definition, die mancherorts noch immer wortwörtlich genommen wird: Ein Notfall ist, wenn sich jemand selbst als solcher empfindet. In der Praxis führt das dazu, dass Leitstellen einen Rettungswagen (RTW) losschicken, sobald jemand sich als Notfall erklärt, unabhängig von der tatsächlichen medizinischen Relevanz. Die logische Folge daraus ist ein überlastetes Rettungssystem.
Das Ziel muss sein, medizinische Notwendigkeit und subjektives Empfinden besser in Einklang zu bringen. Nur so kann die Notfallrettung gezielt, effizient und wirksam arbeiten und wird nicht durch Bagatellfälle gebunden. Genau das war Gegenstand einer umfangreichen Untersuchung initiiert durch die Björn Steiger Stiftung, bei der rund 3.000 medizinische Fachpublikationen zur Hilfsfrist ausgewertet wurden. Das Ergebnis war ernüchternd: Für viele Erkrankungen oder Notfälle gibt es schlicht keine belastbaren Daten, wann genau Hilfe eintreffen muss, um das Outcome (Überlebensrate, neurologische Folgen und die allgemeine Lebensqualität) zu verbessern.
Eine große Ausnahme bildet jedoch der plötzliche Herzkreislaufstillstand. Hier sind die Zahlen und die Evidenz eindeutig: Ohne sofortige Reanimation sinkt die Überlebenschance mit jeder Minute dramatisch. Studien aus Nordamerika, Schweden und Deutschland zeigen übereinstimmend: Wenn nicht innerhalb von 7 bis 9 Minuten ein professioneller Rettungsdienst vor Ort ist, brechen die Überlebensraten rapide ein.
Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen Eintreffen bis zu 8 Minuten und später – in manchen Fällen entscheidet das über Dutzende zusätzliche Überlebende pro Jahr allein in einer Großstadt. Nach 10 Minuten, ohne Reanimation, kommt der Rettungswagen schlicht zu spät.
Daraus lassen sich zwei essenzielle Zeitmarken ableiten, die evidenzbasiert belegbar sind:
Wesentlich ist: Beide Fristen sind das absolute Maximum. Es geht nicht darum, sich diese Zeit zu nehmen, sondern sie auf keinen Fall zu überschreiten.
Die Diskussion führt unweigerlich zu einem strukturellen Problem: Selbst bei bestem Willen kann der klassische Rettungsdienst diese Zeiten flächendeckend nicht immer einhalten. Gleichzeitig verfügt Deutschland über ein weitverzweigtes Netz an BOS-Organisationen – Feuerwehr, Polizei, Katastrophenschutz. Diese Einheiten sind alarmierbar, ausgebildet und schnell, oft viel schneller als jeder RTW.
Trotzdem verhindert beispielsweise in Baden-Württemberg das Feuerwehrgesetz, dass Feuerwehrkräfte zu medizinischen Erstmaßnahmen alarmiert werden dürfen. Es sei denn, jemand steckt in einem Auto fest oder eine Tür ist verschlossen. Solche Regelungen wirken in Anbetracht der Erkenntnisse aus der Notfallmedizin nahezu grotesk. Viel zu oft fahren Rettungswagen mit Blaulicht an mehreren Feuerwehrstandorten vorbei – obwohl dort einsatzbereite Kräfte warten, die Leben retten könnten.
Wenn wir jährlich rund 1.750 Menschen zusätzlich retten könnten, nur indem wir eine evidenzbasierte Hilfsfrist von maximal 10 Minuten ernst nehmen, dann ist das keine Frage der Technik oder der Organisation, sondern eine moralische Verpflichtung. Diese Menschen wären heute noch am Leben und/oder neurologisch intakt. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Jetzt ist die Politik am Zug, die Strukturen zu schaffen, die diesen Anspruch möglich machen.
Die nicht evidenzbasierte Hilfsfrist ist einer von vielen Gründen, warum die Björn Steiger Stiftung im März 2025 Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und, stellvertretend für alle Bundesländer, das Land Baden-Württemberg eingelegt hat.
Mehr zur Verfassungsbeschwerde: https://rettungslandschaft.steiger-stiftung.de/zukunft/klage/
Professor Dr. Clemens Kill sprach über dieses Thema beim Fachkongress „Wege zum Rettungsdienst der Zukunft“ der Björn Steiger Stiftung. Im Rahmen des Kongresses wurde aufgezeigt, wie der Rettungsdienst angesichts wachsender Herausforderungen neu gedacht werden muss. Rund 200 Fachleute aus dem Rettungswesen, der Politik und dem Gesundheitssektor diskutierten vor Ort – weitere rund 90 Teilnehmende verfolgten die Veranstaltung per Livestream.
Infos zum Kongress: https://rettungslandschaft.steiger-stiftung.de/kongress2025/
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